Interview mit Michela Carattini

Die Australierin Michela Carattini (44) ist seit zehn Jahren Intimitätskoordinatorin. Wieso sie diesen Beruf gewählt hat und was er genau ausmacht, erzählt sie mir im Interview.

Bild von Michela Carattini

Wieso bist du Intimitätskoordinatorin geworden?
Es ist eine wunderbare Sache, wenn alle scheinbar unterschiedlichen Elemente deines Lebens und deines Könnens auf logische und harmonische Weise zusammenfinden. Das ist was mir mit Initmitätskoordination passiert ist. Als ich ein Solo für die Berliner Oper/Houston Opera Co-Produktion von Street Scene performte (welche auf ARTE ausgestrahlt wurde), wurde ich mit 14 Jahren professionelle Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. Später schloss ich an der American Musical and Dramatic Academy am Broadway ab. Ich war gerade zwischen zwei Touren, als ich zusah, wie am 11. September 2001 das zweite Flugzeug in den zweiten World Trade Center Turm direkt vor meinem Fenster flog. Dieser Moment und die Reaktion der Welt auf ihn hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf mich und ich entschied mich, Psychologie zu studieren. Ich absolvierte mein Studium an der Columbia University New York, und arbeitete währenddessen für die Vergewaltigungs-, Krisen- und Depressionszentren der Universität. Anschliessend machte ich ein Praktikum in Prag bei der NGO La Strada, die sich gegen Menschenhandel einsetzt. Zu der Zeit hatte ich wirklich einzigartige Möglichkeiten, weil der «Eiserne Vorhang» gerade gefallen war und die Tschechische Republik ein Zentrum für Menschenschmuggel und -handel wurde. Da ich Englisch und Deutsch spreche, wurde ich zu Meetings mit Organisationen wie Interpol und der IOM (Internationale Organisation für Migration) geschickt. Ich half, die Meldehotlines für «Johns» aufzubauen (welche grösstenteils englisch- und deutschsprachig waren), und konnte so von der Erfahrung von Sozialarbeiter*innen, Berater*innen und Überlebenden lernen. Als ich nach Australien zurückkehrte, um meinen Master in Kriminologie zu machen, arbeitete ich für Frauenhäuser, rechtliche Institutionen, den Gerichtshof für häusliche Gewalt und das Rote Kreuz. Mir wurden aufgrund meines eigenen kulturell diversen, multilingualen Hintergrunds immer Kunden aus solchen kulturell diversen Hintergründen zugewiesen. Als ich mit 30 mein erstes Kind bekam, war ich aufgrund dieser Arbeit ausgebrannt, desillusioniert und brauchte Zeit zur Erholung. Ich vermisste das Schauspielern und dachte, ich würde es «zum Spass» machen. Doch ich bekam viele Hauptrollen in professionellen Film- und Theaterproduktionen, wahrscheinlich weil Lebenserfahrung die beste Schauspiellehrerin ist, die es gibt. Ich sah die Machtdynamiken und Schwierigkeiten, welche meine Kolleg*innen und ich als Schauspielende in der Film- und Theaterindustrie erlebten. Erfahrungen welche seit dem #MeToo-Bewegung viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Ich begann darüber nachzudenken, wie ich mein Wissen und meine Fähigkeiten aus der vorherigen Arbeitserfahrung mit der Arbeit, die ich in der Filmindustrie verrichtete, zusammenbringen könnte, und dies war der Anfang meines Weges als Intimitätskoordinatorin. 

Was ist die Aufgabe einer Intimitätskoordinatorin?
So wie ein*e Kampfchoreograph*in für die Sicherheit und Choreographie in einer Stunt- oder Kampfszene verantwortlich ist, ermöglicht ein*e Intimitätskoordinator*in grössere Sicherheit und erleichtert das Choreographieren einer intimen Szene. Was als intime Szene bezeichnet wird, kann von Person zu Person variieren. Generell sind es aber Szenen, in welchen Schauspielende ganzheitlich oder teilweise nackt sind, oder in denen sie sexuelle oder private Handlungen simulieren (z. B. Geburtsszenen, auf die Toilette gehen oder duschen). Diese gelten als besonders risikoreich, weil sie in der Öffentlichkeit, vor der Kamera und in einem Arbeitsumfeld stattfinden, in dem die Machtdynamiken so unausgewogen sind, und in dem ein «Nein danke» einem die Karriere kosten könnte. Als Spezialist*innen für Konsens (also Zustimmung zu bestimmten Handlungen), die nicht die Macht haben, jemanden einzustellen oder zu entlassen, bieten wir einen sichereren Raum, der die Machtdynamik unterbricht, die zwischen Schauspielenden und selbst den freundlichsten Regisseur*innen und Produzent*innen besteht. Wir erstellen für die Produktion ein Risikogutachten und verfügen über Fachwissen in Bezug auf die Illusionen, welche diese Szenen erzeugen sollen. Sei es, das Maskieren von Körperstellen oder Abständen zwischen Körpern (welche aber auf Kamera ganz nahe aussehen), die Nutzung von sogenannten «Modesty Garments», also Spezialanfertigungen, welche die ungewollte Blösse von Intimzonen von Spielenden abdecken oder die Nutzung von sogenannten «Barriers», also Intimbekleidung mit Barrierefunktion bezüglich Körperflüssigkeiten der Sexualdramaturgie. Dies alles bereitet uns darauf vor, kreative Lösungen innerhalb der Zustimmungsgrenzen der Schauspielenden zu finden. Des Weiteren bemühen wir uns, die mit solchen Szenen, sowie mit hochgradig traumatischen Szenen verbundenen Risiken für die mentale Gesundheit der Darstellenden zu minimieren, und verfügen über zusätzliches Fachwissen über kulturelle Unterschiede und Bedürfnisse in diesem Bereich. Die Psychologie und die Neurowissenschaften haben inzwischen überwältigende und eindeutige Beweise dafür erbracht, dass das, was wir in der Realität tun, Auswirkungen auf unsere Biologie im wirklichen Leben hat. Schauspielende müssen eine realistische Vergewaltigungsszene immer und immer wieder spielen. Wie könnte sich dies auf das psychische Wohlbefinden der Schauspielenden auswirken, die das Opfer und den Vergewaltiger spielen, insbesondere über einen grösseren Zeitraum hinweg? Wir sind sowohl dafür ausgebildet, die Risiken für Sekundärtraumatisierung der Schauspielenden zu minimieren, als auch Erste Hilfe für mentale Gesundheit in einer Krisensituation zu leisten. 

Wie war dein Ausbildungsweg?
Nebst meinen Qualifikationen in Schauspiel, Psychologie und Kriminologie, und meine beruflichen Arbeit als Spezialistin für Einverständnis und Gewalt gegen Schwächere, habe ich in Australien und in den USA eine Ausbildung in Intimitätskoordination absolviert und wurde schließlich von SAG-AFTRA als Intimitätskoordinatorin akkreditiert (SAG-AFTRA steht für Screen Actors Guild- American Federation of Television and Radio Artists und ist die einzige internationale Gewerkschaft, die diese Arbeit akkreditiert). Ich hatte wunderbare Mentorinnen wie Kaja Dunn, Tonia Sinia, Steph Power und Rachel Flescher sowie unschätzbar wertvolle Kolleg*innen wie Akala Newman, Adeeb Razzouk und Lori Leigh, die mir halfen, einen Lehrplan speziell für Australien zu entwickeln. Unser Unternehmen, Key Intimate Scenes, erhielt ebenfalls den Status eines von der SAG-AFTRA akkreditierten Ausbildungsprogramms und baute von Grund auf kulturelle Kompetenzen (insbesondere für indigene, arabische und lateinamerikanische Perspektiven) als Grundpfeiler der Arbeit ein. Seither hatte ich die Ehre, an vielen hochkarätigen Projekten mitzuarbeiten, wie der Serie «Nine Perfect Strangers» mit Nicole Kidman, «While the Men are Away» mit Michela De Rossi, «Blaze» mit Simon Baker sowie an lokalen Schweizer Projekten. Zuletzt arbeitete ich mit dem Luzerner Theater und Enjoy Your Stay von Close Up Film mit mit Intimacy Coordinators & Directors Switzerland zusammen. Ich hatte auch die Ehre, als Beraterin für die nationalen Intimitätsrichtlinien mehrerer Länder zu fungieren und an internationalen Konferenzen rund um Lehrpläne teilzunehmen, wie für den Berufsverband Intimitatskoordination und Kampfchoreografie (BIK) in Deutschland oder dem spanischsprachigen Lehrplan von IntimAct, Spanien. Zudem half ich Ressourcen für die arabischsprachige Intimacy Coordination Resource Group und das Australasische Intimacy Coordination Network aufzubauen. Meine Arbeit wurde in internationalen Publikationen im Intimacy Directing for Theatre (US) oder Achieving Work-Life Balance in the Screen Industry (AU) gewürdigt.

Bild von Michela Carattini

Was freut dich am meisten an deiner Arbeit?
Manchmal kommt es vor, dass ein*e Schauspieler*in in einem Gespräch zu Tränen gerührt ist, weil es das erste Mal im Arbeitsleben ist, dass sie jemand nach ihren Grenzen und ihrer Zustimmung fragt. Eine Schauspielerin erzählte mir, dass sie sich bei jeder bisherigen Produktion ein wenig fühlte, als wäre sie vergewaltigt worden. Ein anderer erzählte mir, dass er sich immer Sorgen gemacht hatte, ob das, was er tat, für seine*n Szenenpartner*in überhaupt okay ist. Er war so erleichtert, dass er nun diese Gewissheit hatte. Schauspielenden eine gewisse Souveränität und Bevollmächtigung in Bezug auf ihren eigenen Körper zurückzugeben, und die Weitergabe von Fähigkeiten zur Pflege ihres Körpers, der ihr Instrument ist, und zum Umgang mit den Risiken ihrer Arbeit (einschliesslich sekundärer Traumatisierung und mentaler Gesundheit) sind für mich sehr wichtig. Zu erkennen, wie sich Machtdynamiken und schädliche Stereotypen in unseren Geschichten abspielen und unser Denken in der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft beeinflussen, bedeutet, dass wir auch die Möglichkeit haben, zu heilen, wenn wir diese Kräfte für das Gute einsetzen. Wenn wir helfen können, uns gegenseitig menschlicher zu machen, zu lachen, Vertrauen aufzubauen, können wir beginnen Konflikte, Hass und Hierarchien abzubauen. Ich sehe, wie meine Arbeit Kreativarbeitende dabei unterstützt, aussagekräftige, überzeugende, und risikofreudige Künstler*innen zu werden. So sind haben sie weniger gebrochene, fragile und instabile Seelen, die den Träumen und Fantasien anderer ausgeliefert sind und deren Wohlbefinden untergraben wird.

Wieso ist es wichtig, am Set eine Intimitätskoordinatorin zu haben?
Nebst den bereits erwähnten Aspekten, ist es erstaunlich, wie jede*r sein oder ihr respektvollstes Verhalten an den Tag legt, weil ein*e Intimitätskoordinator*in anwesend ist. Vielen Filmemachern liegt heutzutage sehr viel daran, eine grossartige Geschichte zu erzählen, ohne die Geschichtenerzähler*innen im Prozess zu verletzen. Es gibt ein grösseres, globales Bewusstsein für Machtdynamiken, Ausbeutung, Ungerechtigkeit, die besten Arbeitspraktiken und Verantwortlichkeit. Intimitätskoordinator*innen bieten einen Prozess, welcher die Feinheiten von Zustimmung unterstützen und Schauspielende als Menschen behandeln, welche Charakterisierungen und Storytelling an erste Stelle rücken, und die Vision der Regie auf kreative und mutige Weise umsetzen. Intime Momente sind wunderbare Möglichkeiten, die Ablehnungen und Charakterisierungen in den Geschichten zu entdecken, ohne sich nur auf die limitierte Perspektive der Schauspielenden oder der Regie zu stützen. Ich habe oft erlebt, wie Schauspielende sagen, sie seien viel bereiter, Risiken einzugehen, wenn ein*e Intimitätskoordinator*in am Filmset anwesend ist und sie sich dadurch sicher fühlen. Meine Lieblingsbeschreibung meines Jobs sagte mir die vierzehnjährige Schauspielerin Julia Savage: «Du bist mein Bungee-Jumping Seil, damit ich über die Klippe springen kann». Ich lächelte und sagte: «Ja, das stimmt».  

Was war deine schwierigste Aufgabe?
Es ist eine Branche, in der die Hierarchien sowohl international als auch lokal fest verankert sind. Es ist manchmal schwierig, diese in Frage zu stellen und eine Stimme für die weniger Mächtigen zu sein, weil der Job als Intimitätskoordinator*innen bestehen bleiben soll. Ich bin schon von einer sehr mächtigen Schauspielerin angeschrien worden, die wütend auf den Regisseur war und es an mir ausliess. Ich habe Schauspielende erlebt, die am Set Panikattacken und posttraumatische Stresssymptome bekamen, weil der Inhalt ihr persönliches Trauma auslöste. Es gab schon Crewmitglieder, die mit den Augen rollten, wenn ich sie bat, die Privatsphäre eines Schauspielers zu respektieren. Letztendlich konnte ich viele Menschen davon überzeugen, wie wertvoll diese Arbeit für alle ist und wie viel Zeit, Geld und Schaden sie sparen. Dies ist natürlich die ultimative Erfüllung, wenn jemand, der/die erst nicht mit dir arbeiten wollte, am Ende darüberschreibt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit dir Intimitätskoordinator*innen ist. Weil diese Arbeit sehr viel abverlangt, muss man sehr auf sich Acht geben, sowie eine unterstützende Community und ein Netzwerk haben. 

Wie kommen deine Ratschläge an?
Filmemachen und Theater sind zwei der kooperativsten Arbeitsformen überhaupt. Man braucht ein Team von Schöpfer*innen, und viele Ideen landen im Müll. Dennoch gibt es in der Branche viele Missverständnisse, Ängste und Vorbehalte gegenüber der Rolle der Intimitätskoordinator*innen. Es wird befürchtet, dass sie die Vision der Regie «übernehmen» oder die Kunst und Risikobereitschaft des Projektes «kontrollieren» oder die Sexualität «zensieren» könnten. Diese Befürchtung ist unbegründet, denn wir führen nicht Regie, kontrollieren oder zensieren nicht, sondern geben Empfehlungen aufgrund unseres Fachwissens und Informationen ab. Letztlich liegt es an der Produktion, diese anzunehmen oder nicht. Unsere Empfehlungen beruhen auf Zustimmung und Risiko, nicht auf persönlichem Geschmack und Urteilsvermögen. Abgesehen von den rechtlichen Konsequenzen eines Übergriffs, einer Belästigung oder der Fahrlässigkeit eines Mitarbeitenden, glaube ich, dass die meisten Menschen das Richtige tun wollen. Manchmal sind sie sich nur nicht bewusst, dass die Folgen eines «Nein danke» nicht fair verteilt sind oder dass Zeitdruck, Kognition und Machtdynamiken entscheidende Faktoren sind, die die Fähigkeit einer Person zur Zustimmung zu einer Aktion beinträchtigen können. Manche haben das Gefühl, dass das, worum sie bitten, sie selbst nicht stören würde, also sollte es auch niemanden sonst stören oder, dass eine bestimmte Art von Interaktion einfach zum Job eines Schauspielenden gehört. Wenn du echte Zustimmung willst, musst du bereit sein, auch ein «Nein» in Kauf zu nehmen und überlegen, was jemanden daran hindern könnte, es zu sagen. In gewisser Weise besteht ein Teil unserer Aufgabe darin, den Horizont des Möglichen in Bereichen zu erweitern, in denen viele zu eng denken. Es gibt tausend Möglichkeiten, dieselbe Geschichte zu erzählen, und oft ist die offensichtlichste nicht die interessanteste. Hindernisse können kreative Geschenke sein. Die Gesichter von Künstler*innen, ob mächtig oder weniger mächtig in der Film/Theaterindustrie, leuchten auf wie die Sonne, wenn sie die Welt der Möglichkeiten und Optionen sehen, die sie vorher nicht kannten.

Bild von Michela Carattini

Bilder: Kate Williams, Adeeb Razzouk

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