Marc Forster (55) ist Regisseur des berührenden und wichtigen Films «White Bird». Wie er von dem Roman von Raquel J. Palacio erfuhr, nach welchen Kriterien er die Schauspieler auswählte und welche Botschaft er den Zuschauern mitgeben möchte, verrät er mir im Interview.
Wie hast du von dem Roman von Raquel J. Palacio erfahren?
Die Produzenten David Hoberman und Todd Lieberman haben mich angefragt. Sie hatten schon «Wonder» produziert, der ebenfalls auf der Romanvorlage von Raquel J. Palacio basiert. Im Mai 2020 habe ich während des Lockdowns den Roman und das Drehbuch gelesen. Die Geschichte ist mir emotional sehr nahe gegangen. Ich hatte auch das Gefühl, dass Cyber-Mobbing und Antisemitismus schon dort enorm zugenommen haben. Dies hat meinen Schaffensdrang ausgelöst.
Was hat dich besonders gereizt, diesen Film zu drehen?
Ich hoffte, weil «Wonder» so ein Erfolg war, dass auch junge Menschen sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, die es sonst nicht tun würden. So ein Gedankenanstoss zu bieten, dass sich die Menschen mehr bewusst werden über die Problematik.
Was war dir besonders wichtig beim Plot?
Die Liebesgeschichte zwischen diesen beiden Menschen zu erzählen, die schon fast etwas Märchenhaftes hat. Gleichzeitig wollte ich auch die unglaublich harte Realität des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust zeigen. Junge Menschen setzen sich oft gar nicht mit diesem Thema auseinander. Ich dachte, dass so ein Film sie zur Menschlichkeit bewegt, sie sich dem Holocaust bewusst werden und, dass sich so eine Tragödie hoffentlich nie mehr wiederholen darf. In der heutigen Zeit ist es sehr beängstigend. Als wir den Film gedreht haben, war der Antisemitismus noch nicht so schlimm wie heute.
Wurde das Startdatum in der Schweiz bewusst kurz nach dem Yom Hashoah gewählt?
Nein. In Amerika ist das Startdatum erst am 5. Oktober in diesem Jahr. Ob das bewusst vor dem ersten Jahrestag des Terroranschlags vom 7. Oktober 2023 gewählt wurde, weiss ich nicht.
Wie hast du die Schauspieler ausgewählt?
Wegen der Pandemie wurden die jungen Schauspieler zuerst über Zoom gecastet. Ariella Glaser aus London habe ich zuerst ausgewählt, danach Orlando Schwerdt. Als ich sie zum ersten Mal live zum Casting gesehen habe, ging es darum, ob die Chemie zwischen ihnen funktionierte. Sie haben mich sehr inspiriert. Bei einer Liebesgeschichte muss die Chemie stimmen, da war ich dann schon froh, dass ich sie nicht recasten musste (lacht). Helen Mirren habe ich die Rolle offeriert. Ihre Rolle ist die, der Erzählerin, so erhält die Rolle noch mehr Gewicht.
Im Film wird immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit gewechselt. Wie hast du die verschiedenen Teile ausgesucht?
Mir war es wichtig, weil der grösste Teil der Geschichte in der Scheune stattfindet, dass wir immer wieder aus dieser Scheune rausmüssen. Sonst wäre es zu eindimensional geworden. Ich hatte es dann langsam ausdifferenziert, wo die richtigen Stellen waren, um wieder in die Gegenwart und dann wieder zurück in die Vergangenheit zu wechseln.
Was ist deine Lieblingsszene im Film?
Ich habe die Szene sehr gerne, wo er Charlie Chaplin imitiert, aber auch die märchenhaften Szenen. Vielleicht auch, weil ich selbst mit der Flucht in die Fantasiewelt in Davos aufgewachsen bin.
Wie emotional war es am Set?
Es war schon recht emotional. Orlando war so fokussiert, dass er nicht mal sein Handy ans Set mitgenommen hat. Besonders emotional war die Szene, als seine Schulkameraden zu ihm nach Hause kommen und ihn verprügeln.
Gab es, gerade bei den jüngeren Schauspielern, eine Bewusstseinserweiterung bezüglich der Themen Ungerechtigkeit, Holocaust durch den Drehverlauf?
Sehr! Die Schauspieler haben sich dann auch sehr dafür eingesetzt.
Hat die Autorin Raquel J. Palacio den Film schon gesehen? Wie findet sie ihn?
Sie liebt den Film und hat sich sehr bedankt.
Was macht so ein berührender Film, den du geschaffen hast, mit dir persönlich?
Ich bin ein emotionaler Mensch, versuche mich aber gleichzeitig von meiner Arbeit zu distanzieren. Durch die ganze Produktion bin ich so involviert, dass ich nach dem Abschluss des Films mich abgrenze, um auch ein neues Projekt starten zu können.
Welche Botschaften sollen die Zuschauer mit nach Hause nehmen?
Dass wir uns wieder unserer Menschlichkeit bewusst werden und einen Weg finden müssen, mit- und nebeneinander zu existieren. Ich verstehe die Gewaltausbrüche gegen Religionen und Menschen nicht. Wir alle haben das Recht auf Leben. Es muss nicht immer Nächstenliebe sein, aber dass man jeden respektiert und in Ruhe leben lässt! Es geht um das Durchbrechen des Gewaltkreislaufs, denn wir haben nur immer Aktion und Reaktion, dass ist einfach problematisch, denn so gibt es keine Lösung.
Ja, und keiner will aufhören, damit er nicht als der Schwächere dasteht.
Genau. Aber wenn du um deine Existenz kämpfen musst, wird es natürlich sehr problematisch.
Bilder: Marc Forster, © 2024 Ascot Elite Entertainment. All Rights Reserved., Zurich Film Festival
Filmkritik «White Bird»
Danke Daphne, für deine Arbeit und für das Interview mit Marc Forster!
Liebe Génia, danke dir vielmals!!! Das freut mich sehr. 🙂