Seit 2020 ist Christian Jungen (51) aus Zürich Artistic Director des Zurich Film Festivals. Als ehemaliger Filmjournalist ist er tief in der Materie verwurzelt und man spürt richtig sein Herzblut für das Thema. Zum 20-jährigen Jubiläum des ZFF wollte ich von ihm wissen, woher seine Liebe für Filme kommt, wieso er zu Beginn dem Zurich Film Festival sehr skeptisch gegenüberstand und ob er schon mal in einem Film mitgespielt hat.
Wie warst du vorher mit dem ZFF verbunden?
Ich war seit der ersten Ausgabe 2005 als Journalist dabei und war anfangs extrem skeptisch. Tatsächlich habe ich die Gründer im Blick in die Pfanne gehauen, weil ich fand, es braucht nicht noch ein weiteres Festival neben Solothurn und Locarno. Als 2008 aber Sylvester Stallone kam, wurde ich hellhörig und war einer der ersten Journalisten, die sie ernst genommen haben. Später, als ich bei der NZZ am Sonntag war, haben wir mit dem ZFF zusammen die Filmzeitschrift «Frame» gegründet. Ich glaube, ich bin einer der wenigen, die alle Ausgaben des Zurich Film Festivals miterlebt haben. Mein erster Arbeitstag bei der NZZ am Sonntag fiel in die Woche, in der Polanski verhaftet wurde. Mein erster Artikel in der NZZ am Sonntag war ein Interview mit meinem Vorgänger Karl Spörri über die Verhaftung Polanskis.
Die Filmzeitschrift «Frame» hat aber nichts damit zu tun, dass das Kino Frame heisst?
Doch, das ist eine versteckte Hommage an die Filmzeitschrift, die leider eingestellt wurde nach meinem Weggang von der NZZ am Sonntag. Es ist ein passender Name, weil wir die Filme auch framen möchten, sie in einen Rahmen stellen möchten mit Einleitungen, Diskussionen und Premieren.
Wie kam es dazu, dass du die Nachfolge von Karl angetreten hast?
Es war Karls Idee, weil wir einen ähnlichen Filmgeschmack haben und beide eine positive Einstellung zu Hollywood. Früher rümpften die seriösen Film Festivals und die Filmkritiker eher die Nase bei Hollywood, deswegen kam das ZFF am Anfang auch als rebellisch rüber, weil sie ungeniert Stars empfangen haben. Meine Anstellung hatte weniger damit zu tun, dass ich bei der NZZ am Sonntag war und das ZFF der NZZ gehört. Im Gegenteil, die NZZ war am Anfang eher skeptisch, weil sie lieber einen internationalen Top-Shot wollten. Karl Spörri und Nadja Schildknecht meinten aber, das muss jemand sein, der in Zürich ist und nicht jemand, der einen Monat vor Festivalbeginn nach Zürich kommt und dann wieder nach Toronto oder so verschwindet.
Das Schöne am ZFF ist, dass es international ist, aber von Zürchern für Zürich und die Welt gemacht wird. In unserem Team sind die meisten Zürcher und es ist definitiv eine Stärke, dass wir lokal gut verankert sind. Das Festival wird auch extrem gut von der Bevölkerung getragen und ist in Zürich praktisch jedem bekannt. In Berlin habe ich die Erfahrung gemacht, dass man gar nicht in allen Stadtteilen etwas von der Berlinale mitbekommt. Ich war mal da und ein Taxifahrer wusste gar nicht, dass die Berlinale gerade stattfindet!
Das ist ja krass. Weil die Taxifahrer doch dann eher noch mehr zu tun haben.
Sollte man meinen.
Auf was legst du besonderen Wert bei der Filmauswahl?
Ganz klar auf die Qualität. Was uns von anderen Festivals unterscheidet, ist, dass wir viel stärker selektionieren. Wir zeigen dieses Jahr 100 Filme, während andere 400 Filme zeigen. Das heisst nicht, dass wir uns weniger Filme anschauen, aber die Schwelle, es ins Programm zu schaffen, ist höher. Der Anspruch ist klar Premium. Ich sage gerne, dass man im Herbst in Zürich Filme sieht, die ein halbes Jahr später Oscars gewinnen oder zumindest nominiert sind. Dieses Jahr waren zehn Filme, die am ZFF gezeigt wurden, nominiert. Dies nach einem schwierigen Jahr mit dem Hollywood-Streik, sonst waren es mehr. Es ist uns wichtig, dass es Filme sind, die emotional sind und berühren. Last but not least sind wir ein Festival, das nahe am Kino ist. Wir leben in der Stadt mit der grössten Kinodichte der Welt, da gehört es sich auch für ein Festival, die Kinokultur zu stärken. Mit dem Frame an der Europaallee betreiben wir nun selbst ein Kino mit sechs Sälen getreu unserem Motto «’cause life is better with movies». Movies bezeichnet sowohl den Film als auch das Kino.
Das Frame wurde vor nicht ganz einem Jahr eröffnet. Habt ihr schon Bilanz gezogen?
Ich kann dir eine Zwischenbilanz geben. Wir sind super gestartet mit dem ZFF. Dann kam die grosse Ernüchterung, weil es recht schlecht angelaufen ist. Zum Teil hatten wir die Filme gar nicht, weil die Verleiher manchmal zehn Monate vorher mit den Kinos die Filme vereinbaren. Da wussten wir noch gar nicht, dass wir das Frame haben würden. Im Februar und März hat es extrem angezogen. Jetzt im Sommer ist natürlich ein bisschen Flaute, aber das ist bei allen Kinos so. Klar ist, dass wir im Arthouse-Sektor eine führende Rolle spielen. Wir programmieren sogar im Auftrag die Arthouse-Kinos. Drei Sachen machen uns stark. Sehr gute Säle und Technik, jüngeres Publikum, wir setzen mehr auf Social Media sowie verschiedene Anlässe. «Poor Things» war der erfolgreichste Film, der bisher im Frame gelaufen ist.
Wieso verleiht ihr Kate Winslet den Golden Icon Award?
Sie ist eine super Schauspielerin, die immer wieder eine mutige Rollenauswahl trifft und sehr wandelbar ist. Den Golden Icon Award kannst du nicht irgendjemandem geben; die Person müssen die Leute auch kennen. Kate Winslet ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen. Sie war bei «Titanic» und «Avatar: The Way of Water» dabei, die beiden erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Ich bin mit ihr auch ein bisschen aufgewachsen. Seit ich beim ZFF bin, haben wir schon dreimal probiert, dass sie kommt. Ich freue mich sehr, dass es nun geklappt hat und auch, weil «Lee» ein sehr cooler Film ist. Sie hat den Film als Produzentin selbst initiiert über die Fotografin Lee Miller, die den Zweiten Weltkrieg und die Folgen des Holocaust fotografiert hat. Durch sie und ihre Fotos wurde die Nazihölle für unsere Nachwelt geprägt. Das Verstörende ist, ihre Bilder sind teils wahnsinnig schön, zeigen aber auch unfassbares Elend. Kate Winslet verkörpert Lee Miller mit Haut und Haaren und trägt diesen Film von A bis Z.
Versucht ihr einen Ausgleich zwischen internationalen und Schweizer Preisträger*innen zu finden?
Wir versuchen natürlich immer, etwas für den Schweizer Film zu machen. Zürich ist die Hauptstadt des Schweizer Films. Praktisch alle Verleiher sind in Zürich und sicher über ein Drittel der Filmschaffenden. Dass wir Emil Steinberger auszeichnen, ist typisch ZFF, weil wir nie die Nase gerümpft haben über populäre Dinge. Krass ist auch, dass der Post mit der Ankündigung von Emil auf Social Media eine super Reichweite erzielte, die nur von dem zu Johnny Depp 2020 getoppt wurde. Emil bringt den Film «Typisch Emil» mit. Ein Dokumentarfilm über sein Leben und seine Karriere. Er zeigt, wie er immer wieder den Mut hatte, neu anzufangen und sich neu zu erfinden. Traurig ist aber, dass er eine schwierige Kindheit hatte und seine Eltern bis zum Schluss nicht damit einverstanden waren, dass er Kabarettist wurde, obwohl er dann schon super erfolgreich war.
Das ist sehr traurig. Was für Filme magst du am liebsten?
Ich habe gerne Autorenfilme von Regisseurinnen und Regisseuren, die ich kenne. Der Witz am Autorenkino ist, dass man die thematische Kontinuität in den verschiedenen Filmen sieht, sodass man dann sagen kann, das ist zum Beispiel typisch Wim Wenders. Sonst bin ich sehr breit gefächert, es ist einfacher zu sagen, was ich nicht mag. Science-Fiction zum Beispiel. Ich bin auch relativ sensibel auf Gewalt, habe dies auch als Filmkritiker abgelehnt. Es ist ein schmaler Grat zwischen Parodie und doch Gewaltverherrlichung. Man darf nicht vergessen: das Kino ist ein Massenmedium mit einem gewissen Einfluss auf die Leute. Deswegen ist es wichtig, sich gut zu überlegen, wie weit man geht.
Wie stellt ihr die Gästeauswahl zusammen?
Wir gehen immer vom Film aus. Wenn wir den haben, versuchen wir Cast und Crew zu bekommen. Wir wollen auch dem Premium-Anspruch gerecht werden. Ich wills nicht verschreien, aber es wird auch immer einfacher, weil das ZFF etabliert ist in Hollywood und die Agenten uns kennen. Die Gäste gehen happy nach Hause und freuen sich, wiederzukommen.
Wie nachhaltig ist das ZFF?
Das Festival ist klimaneutral. Wir kompensieren die Flüge, fertigen auch immer die Berechnungen über den CO2-Ausstoss an und sind kontinuierlich daran, den Footprint zu verkleinern. Dieses Jahr wird es kein gedrucktes Programmheft mehr geben. Das war nach den Flügen der Faktor, der die Bilanz am meisten belastet hat. Wir verzichten nun schweren Herzens auf das physische Programmheft, zeigt aber auch, dass wir es ernst meinen. Wir legen Wert darauf, regionale und saisonale Lebensmittel zu verwenden. Mir ist das wichtig, dass die Gäste unsere lokale Küche kennenlernen und auch etwas Kulturelles machen, wie das Kunsthaus besuchen. Wenn sie Zürich lieben, haben sie einen zusätzlichen Grund zurückzukommen, als nur einen Film zu promoten. Eddie Redmaynes Aussage hat mich da sehr gefreut, als er mir berichtete, dass er mit seiner Familie eigentlich jedes Jahr nach Zürich kommt, weil es ihm hier so gut gefällt.
Oh, da müssen wir jetzt die Augen gut offenhalten, ob wir ihn irgendwo sehen. 😉
Genau (lacht).
Woher kommt die Liebe zu Film und Kino?
Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und habe dann die Gymi-Prüfung gemacht. Meine Eltern waren nicht so begeistert, deswegen musste ich mir das Studium selbst finanzieren. Ich bin in Winterthur aufgewachsen und das Kino Loge hatte damals gerade neu eröffnet. Als Kassierer konnte ich die Filme gratis schauen, so wurde meine Leidenschaft geweckt. Ich habe Filmwissenschaft studiert und wurde Filmjournalist.
Sind deine Eltern mittlerweile stolz auf dich?
Ja, doch. Gerade kam ja das Buch «Hollywood an der Limmat» raus. Das fanden sie schon cool, dass der Sohn einen gewissen Beitrag geleistet hat.
Hast du mal in einem Film mitgespielt?
Nein, also sicher nicht in einem ernstzunehmenden Film.
Willst du mal?
Nein, wenn ich etwas selbst machen würde, dann am ehesten als Produzent. Aber sicher nicht heute und morgen.
Kannst du schon was zu den nächsten Highlights am diesjährigen ZFF sagen?
Leider nein, aber es kommen jetzt fast wöchentlich Ankündigungen. Was ich sagen kann, dass wir sehr viele Stars haben werden dieses Jahr.
Wie gehst du mit dem Druck um, dass das ZFF weiterhin so erfolgreich bleibt?
Jetzt gerade mache ich mir darüber für nächstes Jahr noch keine Gedanken. Ich überlege mir mehr, wohin es strategisch mit dem ZFF hingehen soll. Der grösste Druck ist jeweils, die Stars zu kriegen. In Zürich erwartet man, dass die Stars mit einem neuen Film kommen. Wenn du sagst, wir haben Liam Neeson, Charlotte Gainsbourg, Daniel Brühl und Eddie Redmayne. Ist die erste Frage, wer kommt sonst noch? Zürich ist sehr anspruchsvoll.
Bilder: Daphne Chaimovitz, Simon Keller
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